nachtkritik.de - 11.10.2007
Babies, Kaninchen und andere Melancholien
Traum mit Revolver ... – Lola Arias in Graz
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Die 31-jährige Lola Arias ist eine Newcomerin der argentinischen
Theaterszene. Sie ist Autorin, Schauspielerin und Regisseurin und
arbeitet mit Profis und Laien. Gemeinsam mit Stefan Kaegi von Rimini
Protokoll inszenierte sie im Januar dieses Jahres "Chácara Paraíso",
eine Installation mit brasilianischen Polizisten, ehemaligen Polizisten
und Mitgliedern von deren Familien. Der zweite Teil dieser Arbeit
(gemeinsam mit bayerischen Polizisten) wird unter dem Titel SOKO São
Paulo im November in Deutschland herauskommen, beim Spielart Festival
in München.
Derzeit gastiert Lola Arias, die für ihre Arbeit kaum oder keine
staatliche Unterstützung bekommt, mit ihrer Compañia Postnuclear –
erstmals in Europa! – beim steirischen herbst in Graz. Im Dom im Berg
zeigt sie eine Trilogie, deren ästhetischer Minimalismus in Bühnenbild,
Licht und Ton sehr gut zur Intimität der Zuschausituation passt. Eine
Handvoll Publikumsmenschen wohnt, zumindest in den ersten beiden Teilen
des Abends, jeweils zwei Menschen in einem
kleinen, kaum beleuchteten Bühnenraum bei.
Zartbittere Revue der Enttäuschten
Diese beiden Menschen
sprechen ehrlich und ohne künstliche Aufgeregtheit über ihre Wünsche
und Träume, existierende und zerstörte. Nie verwenden sie große Worte
oder Phrasen. Hier sind Menschen auf der Bühne, die geliebt haben
und nicht mehr lieben wollen, weil sie Angst haben und noch dazu
gebrochene Herzen. Doch darf man sich das nicht schwer
und trostlos vorstellen. Im Gegenteil: Lola Arias schafft mit diesen
Arbeiten eine zartbittere Revue der Einsamen und von der Liebe
Enttäuschten. Aber um von der Liebe enttäuscht zu sein, muss man
geliebt
haben ...
"Sueño con revolver", Traum mit Revolver. "Das ist kein Traum", sagt
Er. Er und Sie. Sie und Er. In Buenos Aires. Es ist Nacht. Ein
großes Bett. Nur ein schwacher Lichtstrahl kommt von irgendwoher. Es
ist beinahe dunkel. Und es wird auch gleich klargestellt, dass es
nicht hell werden wird. Denn in diesem Teil der Stadt funktioniert
nichts. Kein Strom, kein Trinkwasser, keine Liebe. Während sich das
organisierte Verbrechen auf den dunklen Straßen der Großstadt
breitmacht, kommt es, kurz nach dem Sex, zu einem Gespräch. Sie und Er
erzählen einander von verlorenen Lieben. Doch zu einer Liebe zwischen
den beiden kommt es nicht.
"Striptease". "Glaubst du, dass Babies Selbstmord begehen können?"
fragt Sie. Sie und Er. Er und Sie. In Buenos Aires. Es ist Nacht.
Zwei kleine Betten, ja: nur Matratzen. Er ruft Sie an. Sie hütet das
gemeinsame Kind (das auch auf der Bühne ist), das letzte Relikt einer
gemeinsamen Liebe. Beide sind einsam und wollen irgendwas. Sie stellt
fest, dass sie nicht mehr in ihn verliebt ist. Irgendwann, ohne noch
einmal zueinander gefunden zu haben, endet das Gespräch.
Totaler Striptease, auch der Organe
"El amor es un francotirador" (Die Liebe ist ein Heckenschütze) ist
offener. Sechs Darstellerinnen treten hier auf, darunter Lola Arias
selbst. Es ist das einzige der drei Stücke, dass man sich auch auf
einer großen Bühne vorstellen kann. "Why can't we have two hearts?"
fragt eine Schauspielerin. Sechs Menschen spielen Russisches
Roulette. Sie erzählen von ihren verlorenen Lieben oder von der
Unfähigkeit, eine Liebe zu finden.
Moderiert wird dieser Bekenntnisreigen
von einem elfjährigen Mädchen. Also von jemandem, der noch keine
(unglücklich machenden) Erfahrungen beim Lieben machen musste. Da ist
die Stripperin, die nicht mehr Spanisch sprechen möchte, da sie jedes
Wort an ihren Verflossenen erinnert, oder der alte Schauspieler, der am
liebsten Don Juan spielte. Alle Mitspielerinnen erfüllen sich gegenseitig
ihren letzten Wunsch. Sei es der erste Kuss, sei es, fest ins Gesicht
geschlagen zu werden, oder dass alle um einen weinen.
"Ich komm zu dir mit einem Kanister Benzin ..." ist der Anfang des
Liedes, das in allen drei Stücken gesungen wird.
Verbunden sind die drei Teile durch wiederkehrende Themen, die zu
einer Art Refrain des Abends werden. Es sind schöne, wenn auch sehr
melancholische Bilder, die den Abend durchziehen. Die Angst
als stärkstes Gefühl, das Rauchen von Zigaretten, der Traum und das
Nichtwissen, wo er anfängt und wo er aufhört, der Selbstmord von
Kaninchen oder Babies, die Liebe als Striptease, bei dem sogar die
Organe ausgezogen werden müssen. "Eine Zeit lang war ich traurig, doch
dann habe ich mich wieder verliebt", sagt eine der Frauen.
Ein langer, aber nie langatmiger Theaterabend, den das Publikum mit langem Applaus quittierte.
Ein humorvoller Abend für Melancholiker und alle, die es
werden wollen. Und für alle, die an die Liebe glauben, egal ob vergangen,
erfüllend, herbeigesehnt oder zerstörend.
Marianne Strauhs
20/09 - 14/10/2007
steirischer herbst