steirischer herbst 2007
Neue Zürcher Zeitung - 26.09.2007
Hier wollen wir leben und glücklich sein
Zum 40. Mal Steirischer Herbst in Graz

Wieder und wieder wälzt sich der Wurm aus menschlichen Leibern auf die Bühne. Trickreich
sind die sieben Mitglieder der norwegischen Baktruppen ineinander verknotet. Dass es Amateure
sind, denen die Kunst vielleicht das Herz, nicht aber den Körper stählt, ist unübersehbar. "Avanti
dilettanti", heisst es bei dieser "Do and Undo" betitelten Tanzperformance des Steirischen
Herbstes. Und Baktruppen setzten gleich noch ein zweites Stück drauf. Der berühmte Merce
Cunningham hat ihnen die Choreografie von "Deli Commedia" überlassen, also werfen sich die
zwei Damen und fünf Herren in kreischbunten Trikots auf den Bühnenboden und drehen
Pirouetten an der Grenze der Physik. Trotz ihrer enervierenden Komik: Alles bei dieser
Aufführung ist Kunst, auch das temporär aufgestellte, zugige Zelt, in dem sich Baktruppen immer
wieder verbeugen. Was sich "The Theatre" nennt, wird, wenn auch durch sonst nichts, von einem
zwanzigseitigen Manifest zum künstlerischen Akt erklärt.

Nähe, Distanz und Ferne
Wenn im September die südlich-milde Sonne scheint und im Grazer Stadtpark die Kastanien
aufs Pflaster knallen, dann herrscht an der Mur eine Diskurspflicht, die höchstens durch
gelegentlichen Unernst aufgelockert wird. Bereits zum vierzigsten Mal findet der Steirische
Herbst statt. Das geistige Kind des Jahres 1968, das sich mit Verve interdisziplinären Methoden
verschrieben hat, das von Skandalen gebeutelt wurde und immer noch zu rührend
verschwurbelten Statements neigt, ist sich treu geblieben. "Nahe genug" ist das Generalmotto in
diesem Jahr. Eine schillernde Formel, in der vom Wunsch nach Nähe ebenso die Rede ist wie
von jenem nach Distanz. Die sozialen Implikationen von Nachbarschaft und Fremde werden beim
Festival aus verschiedensten Blickwinkeln betrachtet.

"Un/fair Trade" heisst, nach dem Thema "Slum" im Vorjahr, eine Ausstellung in der Grazer
Neuen Galerie. Darin geht es um die "Kunst der Gerechtigkeit" und um ein Panorama kritisch
hinterfragter Globalisierung. Von Romuald Hazoume über Elmgreen und Dragset bis zu Andreas
Gursky wird der Aberwitz des Weltmarktes in dokumentarischen Akten der Anteilnahme sichtbar.
Esther Polaks Projekt "NomadicMILK" lässt mittels GPS einen Roboter die Wege nigerianischer
Milchtransporte nachzeichnen, beim Kubaner Kcho ist das Boot, in dem wir alle sitzen, über seine
hölzerne Grundkonstruktion nicht hinausgekommen.

Wenn die Menschen einander fern sind, dann auch in der Nähe. Die Ausstellung "Volksgarten"
im Grazer Kunsthaus zeigt die Grundrisse von Nachbarschaften, und das in zweifachem Sinn. Bei
Los Carpinteros türmen sich in der Skulptur "El Barrio" identische Pappkartonhäuser
aufeinander. Wenn diese Zwangsnähe der Entindividualisierung ein Gegenmodell hat, dann ist es
der "Concept Car" von Thomas Hirschhorn, der aus einem über und über beschrifteten und
dekorierten Ford Fiesta besteht. Die Raserei der Egozentrik ist hier auf den Punkt gebracht.
Özlem Sulak geht mit ihrem Video "Granny" der Geschichte ihrer aus Sarajevo in die Türkei
vertriebenen Familie nach. Die Utopie des Zusammenlebens ist ein Luftballon, wie ihn Helmut
und Johanna Kandl erfunden haben. "We will live here and be happy", steht auf seiner bunten
Hülle, auf der sich die Flüchtigkeit mit der Schwerkraft menschlicher Grundbedürfnisse mischt.
"Volksgarten" ist eine Ausstellung mit verblüffend stimmigen Diskursen. Die Bewegungen des
Sozialen werden in den weiten Räumen der amerikanischen Provinz ebenso parabelhaft
nachgezeichnet wie im prekären Nebeneinander knapp kalkulierter städtischer Räume.

Interdisziplinär
Wenn der Steirische Herbst ein interdisziplinäres Festival ist, dann drohen die Ausstellungen
den performativen Künsten eindeutig den Rang abzulaufen. Man konnte in dieser Hinsicht
jedenfalls schon weit bessere Eröffnungswochenenden sehen. Gleich zu Beginn haben sich
Stalplaat Soundsystem damit abgemüht, die Grazer List-Halle zum grossen Klangkörper zu
machen. Was dabei herausgekommen ist, war eine lautstarke Doppelung des ohnehin
omnipräsenten, weil vom Menschen erzeugten Umweltrauschens aus Motorenlärm,
Haushaltgeräten oder Ventilatoren.

Etwas subtiler hat Tim Etchells die menschlichen Lebensäusserungen beim Wort genommen.
"That Night Follows Day" heisst sein Stück, siebzehn holländische Kinder aller Altersstufen bilden
den Chor eines sanften Protests. Wie die Erwachsenen mit Rat und Mahnung das Leben des
Nachwuchses formen, ist Gegenstand eines repetitiven Textes. Wer die Welt erklärt, hat die
Macht. Wer die Macht erklärt, dem gehört möglicherweise die Welt. Es ist ein überaus nettes
Stück Theater, das der sonst eher zu radikaler Derbheit neigende Tim Etchells hier liefert, und
man ist sich schliesslich nicht ganz sicher, ob man den unschuldigen Charme der Truppe schon
fürs Werk nehmen soll oder doch etwas mehr fordern will als diese Schülertheater-Putzigkeit.
Nach vierzig Jahren fängt der Steirische Herbst offensichtlich immer noch und immer wieder von
vorne an. Er kann mit abgebrühter Globalisierungskritik daherkommen oder so unschuldig sein
wie ein Kinderstück. "Wir beginnen ein Fest, wir wissen, wie ernst die Stunde ist, die die
Weltenuhr gegenwärtig zeigt", hat Hanns Koren, der Gründer des Steirischen Herbstes, in seiner
Eröffnungsrede 1968 gesagt. An Aktualität jedenfalls hätte der Steirische Herbst bis heute nichts
eingebüsst.



Paul Jandl



20/09 - 14/10/2007
steirischer herbst
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