steirischer herbst 2007
taz - 09.10.2007
Alles wird verkleinert
Skandal war früher. Heute ist der Ausfall der Erregung die größte Provokation. Der Steirische Herbst in Graz arbeitet mit Theaterkollektiven und Stadtrundgängen und stellt Fragen zum Sinn der Kunst.

Wo fängt man an? Auf dem Acker am Rande der Stadt Graz, wo die Schauspieler in dem Stück
"Zwischen Knochen und Raketen" oft weit entfernt vom Zuschauer pornografische Stellungen
nachahmen? Oder bei der Audio-Tour "Fortysomething" durch das Stadtzentrum, bei der dem
Besucher des Steirischen Herbsts 2007 Stimmen über Kopfhörer von den Kunst-Skandalen aus
40 Jahren dieses Festivals erzählen? Beide Male verkleinert sich das Bild, beide Male ist der
Erzeuger der Erregung in weite Ferne gerückt. Und diese Entfernung von etwas, um das es doch
eigentlich gehen soll, ist womöglich mehr als nur ein Effekt dieses Festivals.

Was hat die Stadt Graz, die mit 200.000 Einwohnern nicht gerade groß ist, nicht schon alles
erlebt an Krach um die Kunst. Am Ufer der Mur, neben der Hauptbrücke, erzählt mir die Stimme
einer Frau in der Audio-Tour "Fortysomething", wie sie als Kind 1979 über die große
Ansammlung von Menschen staunte, die anscheinend relativ fassungslos einem Rülpsen über
dem Fluss zuhörten. Das war das "Tonmonument" von Valie Export, das schon nach einem Tag
entfernt wurde. Auf dem Hauptplatz höre ich von dem Jahr, als die Passanten selbst als Sänger
gecastet und in großen Chören unvermutet zu Kunstakteuren wurden, und von einem Künstler,
der vorgefundene Situationen als Bild erklärte. In der angrenzenden Fußgängerzone, der
Herrengasse, konnte man 1983 unter großem gläsernen Klirren selbst einen Bilderrahmen
passieren, und weiter oben, am Eisernen Tor, baute Christoph Schlingensief 1998 Hochsitze für
Bettler und Obdachlose.

Zehn Jahre zuvor, 1988, hatte Hans Haacke hier ein Denkmal anlässlich des 50. Jahrestages
des Anschlusses von Österreich an das nationalsozialistische Deutschland aufgestellt und damit
für einen sehr großen Skandal gesorgt. Aber selbst in dem Jahr, so hört man im Ausschnitt einer
ORF-Sendung von 1988, ging schon die Klage: Ja, früher war noch die Kunst selbst aufregend im
Steirischen Herbst, heute ist sie fad geworden und die Verständigung darüber nicht mehr als ein
routiniertes Medienecho.

Acht Stunden dauert das gesamte Tonmaterial, das die Künstlergruppe plan b für diese Audio-
Tour durch die Geschichte zusammengestellt hat, aber schon nach gut einer Stunde beginnt man
die Probleme einer Festivalleitung zu ahnen, deren Auftrag noch immer lautet, Avantgarde zu
spielen, in Theater, Musik, Literatur, bildender Kunst. Und so treten Veronika Kaup-Hasler, die
Intendantin, und Florian Malzacher, der Dramaturg des Festivals, die Flucht nach vorn an und
sagen: Heute kann es gemessen an der Erwartungshaltung provozierend sein, dass eben nichts
passiert und die Form klein bleibt. Von der bildenden Kunst im öffentlichen Raum, die in den
Neunzigerjahren eine große Zeit in Graz hatte, haben sie den Schwerpunkt auf Theater und
Performance verschoben. Und dort setzen sie auf den Prozess, die offene Form,
Künstlerkollektive und Netzwerke.

Tatsächlich zeichnen sich einige der Theater-Produktionen, die vom Festival eingeladen und
mitproduziert wurden, durch Entdramatisierung aus. Während sie auf der einen Seite das
Handwerk des Theaters mit großer Lust zerlegen und seine klappernden Einzelteile vorführen,
stellen sie auf der anderen Seite die Suche nach globalpolitischen Themen als etwas aus, durch
das man irgendwie durch muss in diesen Zeiten, egal wie.

Das "Theater im Bahnhof" ist eine Grazer Gruppe, deren Produktion "Zwischen Knochen und
Raketen. Ein Theaterstück mit weltpolitischen Dimensionen" ein Auftragswerk für den Steirischen
Herbst war. Seine Struktur parodiert die Mechanik des Boulevards, wo ständig unangekündigter
Besuch auftaucht und hinter jeder Tür eine verbotene Beziehung lauert. Die Dialoge hört man
über Lautsprecher, während sich die Schauspieler quer über den weiten Acker bewegen, von
dem sie behaupten, er sei die 70.000-Quadratmeter-Wohnung eines ehemaligen Pornostars. Die
bekommt nicht nur Besuch von ihrer Freundin, sondern auch von ihren drei Ehemännern Viktor I,
Viktor II, Viktor III, allesamt aus den ehemaligen sowjetischen Republiken stammend und noch
nichts voneinander wissend. Während der Pornostar mit dem Verstecken der Männer beschäftigt
ist, was angesichts des freien Blicks über das weite Feld schon ziemlich absurd ist, macht sich
die Freundin nacheinander an die Verführung der drei Viktors.

Die Sexszenen bringen nicht nur die Autofahrer, die auf der angrenzenden Landstraße
unterwegs sind, jedes Mal vom Gaspedal, sondern sie sind auch eine schöne Umkehrung der
pornografischen Perspektive: Statt Nahaufnahmen Totale bis zu den Bergen, hinter denen die
echte Sonne untergeht. Die weltpolitische Dimension kommt erstens über die Texte ins Spiel - die
drei Viktors monologisieren vor sich hin und teilen Splitter aus den Krisengebieten mit, aus denen
sie kommen. Aber mehr als sprachliche Behauptung ist das nicht, auch wenn hier wieder eine
Umkehrung ins Spiel kommt: Denn diesmal sind es die Männer, künstlerische Existenzen am
Rande von Pleiten und Verhaftungen, denen durch Sexhunger und Kaufkraft der Frauen
geholfen wird.

So weit, so gut. Alles wird verkleinert, das Drama, der Skandal, die Erregung. Aber das ist es
dann auch schon. Nichts bleibt hängen. Sind die Elemente vorgezeigt, tritt der Rest auf der Stelle.

Die Teilnehmer der andcompany & Co kommen aus fünf verschiedenen Ländern und haben
sich der Erforschung vergessener Utopien verschrieben. Ihr Stück "Time Republik", das sie in
Graz uraufführten, wird später in den Sophiensälen Berlin, auf Kampnagel Hamburg, im FFT
Düsseldorf und in weiteren Zentren des freien Theaters zu sehen sein. In "Time Republik" bildet
der erste Sputnik, den die UdSSR am 4. Oktober 1957 ins All sandte, den Ausgangspunkt. Sie
erzählen die Geschichte des Wettrüstens und des Kalten Krieges als ein sprachakrobatisches
Musiktheater. In langen zungenbrecherischen Sätzen türmen sie die Szenarien des
Gleichgewichts des Schreckens übereinander, bis diese Sprachkaskaden unaussprechbar
werden. Dazwischen gibt es Reden an die Männer auf dem Mond und Training für die
Schwerelosigkeit.

Es hat Charme, wie hier die ganz große Geschichte mit Mitteln, die oft nach Instrumenten der
kindlichen Früherziehung aussehen, erzählt wird. Was aber fehlt, ist ein Verhältnis zum Inhalt,
das darüber hinausgeht, die Geschichte als Spielmaterial zu begreifen. Was von den vergangen
Bedrohungsszenarien unsere Gegenwart prägt, was davon sichtbar oder unsichtbar ist, wie sich
heutige Ängste davon unterscheiden: Tatsächlich fallen einem diese Fragen während des Stücks
ein.

Besser zueinander passten Form und Inhalt in dem Stück "No Dice" vom Nature Theater of
Oklahoma, einem Gastspiel aus New York. Alles dreht sich um den Versuch, Geschichten zu
erzählen, und den Parcours der Hindernisse, den der Schauspieler dafür durchlaufen muss. Den
Schlüssel bildet ein Telefongespräch eines Schauspielers mit seiner Mutter. Sie war im
Dinnertheater, eine typisch amerikanische Form der Unterhaltung, und kann sich noch an das
Essen und die Kostüme erinnern, vielleicht auch noch an die Kulisse und die Zahl der Leichen,
aber nicht mehr an die Geschichte und schon gar nicht an die ästhetische Qualität.

Wie soll man bei solchen Aussichten nicht den Mut verlieren. "No Dice" ist ein verzweifeltes
Gequassel, das sich um Probleme der Glaubwürdigkeit als Künstler, die Bewunderung für
Hollywoodstars, das beschissene amerikanische Theatersystem, Fernsehserien, Alkohol und
andere Krisen der Kreativität dreht. Der Text hat dabei viele Wiederholungsschlaufen und wird, so
scheint es, den Schauspielern über Kopfhörer zugespielt, so dass sie der Identifikation mit der
Rolle immer hinterherhecheln. Pollesch auf Amerikanisch, denkt man, allerdings weit entfernt von
einer entsprechenden Etablierung im Theaterbetrieb.

Für die Szene, die früher den Steirischen Herbst trug - die Künstler, das Feuilleton, das
Publikum -, mag all das zu albern und verspielt erscheinen, und tatsächlich findet jetzt ein
Generationenwechsel auch im Publikum statt. In einem Gespräch, das im Festivalmagazin
abgedruckt ist, sagt Exintendant Peter Vujica, der das Festival von 1983 bis 1989 leitete: "Zu
meiner Zeit hat es Leute gegeben wie Heiner Müller, Ligeti, Penderecki. Heutzutage ist das ein
Heer von Pygmäen, die alle Fertigkeiten haben, aber nicht herausragen."

Das Bild passt gar nicht so schlecht: dass da, wo ein großer Name und ein Werk standen, jetzt
ein Haufen wuselnder Leute auftaucht, die irgendwas machen. Manche Sachen überraschen so
einfach durch die Zahl der Beteiligten. Zum Beispiel das Festival-Zentrum, "The Theatre", das
auf dem Karmeliterplatz in der Altstadt aufgebaut ist. Es setzt sich aus Containern für Toiletten,
Büro und Küche, einem Cafézelt mit aufgeklebten Punkten und einem Kubus, in dem Theater
gespielt wird, zusammen. Es ist mobil, sehr schön. Dass über 40 Künstler anderthalb Jahre ihr
Hirnschmalz da hineingesteckt haben sollen, scheint dann doch irgendwie nicht mehr
nachvollziehbar im Verhältnis zwischen Aufwand und Ergebnis. Es steckt vielmehr auch viel
Diskursverliebtheit darin, die Entwicklung des Festivalzentrums "als eine Art soziale Performance"
zu verklären.

Und solche hochtrabende Vokabeln baumeln den Künstlern alle Nase lang vor derselben. Sie
strampeln sich ab, sie schnappen danach, sie zeigen ihre Mühe damit her und machen sich über
die Vergeblichkeit lustig. Aber sie wären vielleicht auch mal wieder gut beraten, etwas weniger
begeistert über die Erscheinung der eigenen Auflösung zu sein.


KATRIN BETTINA MÜLLER



20/09 - 14/10/2007
steirischer herbst
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