steirischer herbst 2007
Salzburger Nachrichten - 24.09.2007
Aufstand der Zahnspangenbrigade
Radikales Kindertheater für Erwachsene von Tim Etchells&Victoria bilden den Auftakt des "steirischen herbstes". Zwei Tanzprojekte können nicht überzeugen.

Der Sommerschlaf ist zu Ende, der "steirische herbst" füllt - wie schon
lange nicht mehr - die Grazer Kunstorte mit Publikum. Die Karawane der Interessierten zog am
Samstag zu den zehn Vernissagen der "herbst"-Ausstellungen (die SN werden noch berichten),
im übervollen, mit Riesenkonfetti geschmückten Festivalzentrum "The Theatre" brutzelten
schwedische Hotdogs, in der vom Forum Stadtpark eingerichteten "russendisko 2.0" tanzten
nicht nur Moskauer Gastkünstler. Und der von Robert Jelinek ausgerufene "SoS - State of
Sabotage" weist neben zwei Flaggen immerhin schon einen Konsulatsparkplatz auf.

Subtile Nachdenkübung für Erwachsene An die Spitze der Premieren im Genre "Darstellende
Kunst" hat "herbst"-Intendantin Veronika Kaup-Hasler wohlweislich "That Night Follows Day" von
Tim Etchells&Victoria gestellt. Die subtile Elternbeschimpfung und Nachdenkübung für
Erwachsene ist ein neuer (bereits international bewährter) kreativer Kraftakt von Tim Etchells, der
als Mastermind der britischen Kompanie "Forced Entertainment" Bekanntheit erlangt hat.

Diesmal kooperierte der Brite mit der belgischen Theater- und Performancegruppe "Victoria"
und stellte Freitagabend im Grazer Theater "Next Liberty" 15 Kinder im Alter zwischen acht und
14 Jahren auf die Bühne.

Im stilisierten Turnsaal schwillt ein flämischer Chor aus Kinderkehlen an: "Ihr lehrt uns, dass
das Alphabet 26 Buchstaben hat." Oder: "Ihr nennt uns Kleines oder Scheißerchen." Oder: "Ihr
fragt Euch, was wir über Sex wissen." Und so weiter. 70 Minuten lang. Keine Atempause, keine
Gnade.

Die Kinder tragen Latzhosen oder etwas zu weite Hemden, niedliche T-Shirts oder ein
herzallerliebstes Röckchen. Doch jedes Kindchenschema zerbricht, wenn die
Zahnspangenbrigade sich in verschärfter Tonlage und Mimik über die von den Altvorderen
unternommenen Versuche der Manipulation, Bevormundung und Überwachung alteriert: "Ihr
horcht an unserer Tür und schaut von Zeit zu Zeit, was wir so tun."

Von Fürsorge bis zu Despotismus: Der wie von einem griechischen Chor vorgetragene Text
durchleuchtet Erziehungsmechanismen, entlarvt Vorurteile, befragt den Sinn von Verboten, ohne
dabei selbst altklug zu wirken. Feiner Humor und raffinierte Rhythmuswechsel ziehen sich durch
diesen radikal-prägnanten Theaterabend.

"That Night Follows Day" ist eine Verstörung für das Stadttheaterpublikum und wirft generelle
Fragen über das Wesen zeitgenössischen Theaters auf. Der Berührungsfaktor kann auch ohne
Personenentwicklung und klassischen Handlungsaufbau hoch sein. Und: Wo liegen die Grenzen
zwischen Theater, Performance oder Aktion?

Ist "Kinderarbeit" auf der Bühne zulässig? Der im Raum stehende Vorwurf einer fragwürdigen
Kinderarbeit - die jungen Belgier beherrschen ihren langen Text perfekt - geht in jedem Fall ins
Leere. Auch für "Rumpelstilzchen" gäbe es Textmassen zu lernen, die Kinder und Jugendlichen,
die für Etchells auf der Bühne stehen, scheinen weder benutzt noch ausgebeutet zu sein.

Einmal balgen sich die Kleinen im Turnsaal (Bühne: Richard Lowdon), schon geht es weiter im
verbalen Aggressionsabbau: "Ihr sagt uns, dass alles einen Namen hat." Orte zum Beispiel, die
einen aufwühlen können, heißen Theater.

Vom phasenweise beklemmenden Sprechtheater zum enervierenden Tanztheater: Wie sehr
Emotionen und Geschichten verschleppt, bis zur Unkenntlichkeit abstrahiert werden können,
stellte Samstagabend die Uraufführung von "reportable portraits" der deutschen Formation
"deufert+plischke" unter Beweis.

Im respektablen Klang- und Lichtraum von Hubert Machnik und Herman Sorgeloos beschreiben
zwei Frauen und drei Männer mit Bewegung und Gestik (fiktive) Porträts. Die ritualisierten
Schritte und Interaktionen verharren in der Konvention, die Porträts bleiben größtenteils
gesichtslos.

In jedem Fall: der "herbst" riskiert wieder Ihrem vorauseilenden guten Ruf wurde auch die
norwegische Formation "Baktruppen" nicht gerecht. Die Produktion "Do and Undo&Deli
Commedia" im neu errichteten "The Theatre" ist ein frecher, aber letztlich hausbackener und viel
zu greller Kommentar zum zeitgenössischen Tanz. Die aus vom Leben geformten
Menschenkörpern geknotete Raupe, die kleine Kunststücke vollführt, entbehrt nicht eines
gewissen Charmes. Mühsal und die Notwendigkeit eines Miteinanders auf dem Tanzboden
werden karikaturhaft sichtbar.

In jedem Fall: der "herbst" riskiert wieder Ihrem vorauseilenden guten Ruf wurde auch die
norwegische Formation "Baktruppen" nicht gerecht. Die Produktion "Do and Undo&Deli
Commedia" im neu errichteten "The Theatre" ist ein frecher, aber letztlich hausbackener und viel
zu greller Kommentar zum zeitgenössischen Tanz. Die aus vom Leben geformten
Menschenkörpern geknotete Raupe, die kleine Kunststücke vollführt, entbehrt nicht eines
gewissen Charmes. Mühsal und die Notwendigkeit eines Miteinanders auf dem Tanzboden
werden karikaturhaft sichtbar.

Martin Behr



20/09 - 14/10/2007
steirischer herbst
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