steirischer herbst 2007
www.corpusweb.net - 23.09.2007
Pentagrammatische Zwillinge
PERSPEKTIVE #1: DEUFERT+PLISCHKE MIT DER URAUFFÜHRUNG VON "REPORTABLE PORTRAITS" BEIM GRAZER STEIRISCHEN HERBST 2007

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Eine Brust. Zwei Seelen hauchen ein überaus existentialistisches Ach. Reiben sich die beiden zu sehr in ihrem Busenbett auf, so kann es sein, daß sie zeugen, was zuweilen multiple Persönlichkeit genannt wird. Düster ist inwendig die Brust, besonders, wenn sie sich zu Kopf steigt. Dort bildet sie Spaltungen aus, geriert sich als Theater, in dem alle möglichen Charaktere auftreten, die gar nichts voneinander wissen wollen, die einander verdrängen oder ablösen. Und das Theater selbst, wie man es so kennt, diese Kopfbrusthöhle, in der Einheiten aus Fleisch und Blut einander gegenseitig an die Wand zu spielen neigen, zerrt diese Besessenheit in die Öffentlichkeit.

Auf der Bühne ist jeder Beifall immer Zwischenapplaus, und der Vorhang (wenn es einen solchen gibt) zieht sich, indem er fällt, immer aufs Neue auf. Herrlich, was dort möglich ist: dieser Blick in unsere toten Winkel! Bühne, Leinwand, Bildschirm: Licht an für die Selbstbeobachtung. Sind es nicht die Emotionen der Zuschauer, die dort getanzt werden? Wie tief sie doch sind, wie schön und groß und wahr und wirklich. Ach doch ja, es wird daran gehangen. Gern wird Eintritt bezahlt für diesen Gang in die eigenen Regungen. Wie schön es singt, das Gefühl, und welche Worte es findet, welche Höhen und Abgründe es doch meistert...

Die Minusmathematik Und zwar in sicherer Entfernung. Wollte man die Entfernungen zwischen deufert und plischke messen, dann bedürfte es einer Mathematik, die Distanzen im Minusbereich bestimmt. Im Minus der Abstände sieht die Welt so aus, wie sie ist, aber was verkehrt, läuft umgekehrt. Hier aalt sich eine Seele in einer Doppelbrust. Sie besteht aus zwei übereinandergelegten Folien, die Bilder tragen, die so gegeneinander verschoben sind, daß sie dreidimensional wirken: „Reportable Portraits“. Zurücktragbare Brustbilder, sagt die Übersetzungsmaschine. Das Gegenmodell zu dem existentialistischen Ach, schließt das zweihemisphärische Hirn des Beobachters, dessen beide Seelen auf einem Sessel Platz gefunden hatten. In dieser neuen Arbeit tragen deufert+plischke sich aus der Unterwelt von „Directory: Tattoo" ans Licht. Es ist eine Neonleuchtenwelt. Fünf Tänzerinnen und Tänzer. Zu beiden Seiten der Bühne (von Herman Sorgeloos) je fünf Beleuchtungskörper, die aus jeweils zwei Neonröhren bestehen. In unserer Minusdistanzen-Mathematik heißt das: der Raum zwischen den beiden Lichtgebergruppen, geteilt durch fünf, bestimmt den Abstand der gegenseitigen Durchdringung derer, die sich in dem Raum herstellen. Was dabei nicht vergessen werden darf ist, daß deufert+plischke, dem Künstlerzwilling, im Grunde ein nicht zu unterschätzender Schalk in den Nacken sitzt. Wenn Kattrin Deufert in der Eingangsszene, angetan mit einer sonnengelben Bluse, mit halb erhobenen Armen dasteht und die Augen schließt, wirft sie unsere gierigen Politblicke aus ihrer platonischen Privathöhle.

Fünf und fünf Die aus fünf Sektoren bestehende Performance weist ebenfalls auf eine Mathematik hin, die zum Symbol für Untersuchungen an Verwandtschaften wird. Zuerst wohl die Verwandtschaft zwischen Darstellung (Bild) und Dargestelltem (Motiv). Daher das doppelte Pentagramm: fünf Bilder (Szenen) und fünf Motive (Tänzer). Das Pentagramm ist eines der Symbole für den Goldenen Schnitt, nach dessen Prinzip auch die berühmte Proportionsstudie des menschlichen Körpers von Leonardo da Vinci konstruiert ist. Leonardos Figur ist in einen Kreis eingeschrieben - die Antithese zu der inneren Zerrissenheit des existentialistischen Leibes. Die Flächigkeit der Dramaturgie der einzelnen Sektoren ist verwandt mit der Intention von deufert+plischke, gegen das Prinzip des Dualismus - explizit von Mann und Frau - vorzugehen. Was nun in den fünf Szenen, die daherkommen, als rekurrierten sie auf die Äthetik der New Yorker Grand Union (aber minus „Tanz“), angeht, so bilden diese komplexe Strukturen aus Gesten, Posen, Tableaux vivants und genau gewählten choreografischen Abläufen, die weder unmittelbar dekodierbar noch abstrakt sind. Geheime Zeichen erzeugen Intensitäten und Atmosphären der Gemeinsamkeit, die weder Isolation noch körperliche Kontakte forcieren. Eine andere Unterwelt Daher ist „Reportable Portraits“ nicht unbedingt eine Arbeit, die man als sexy bezeichnen würde. Der Künstlerzwilling hält die Augen geschlossen, weil er weiß, daß es in Wirklichkeit keinen Ausweg aus der Platonischen Höhle gibt. Er öffnet die Augen, um die Schatten zu zeigen, die der politische Blick im Theater wahrnimmt. So bieten deufert+plischke diesmal eine andere Unterwelt. Künstliches Licht, wie es im Theater normal ist, konventionell aussehende Ästhetik als Überblendung von Mystizismus und Pathos. Und ein akustischer Raum von Hubert Machnik, in dem der schönste Rationalismus steckt, dessen minimalistische neue Musik fähig ist.
Fred Arctor



20/09 - 14/10/2007
steirischer herbst
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