steirischer herbst 2007
Die Kuratoren zur Nahe genug – Walking Conference:


Das Thema

„Nahe genug“: das ist ein Sehnsuchtsort, wenn er entfernt ist – und ein Zuviel, wenn es erreicht ist. Liebe zum Beispiel. „Nicht nur“, wie Niklas Luhmann schreibt, „eine Anomalie, sondern eine ganz normale Unwahrscheinlichkeit“. Unwahrscheinlich nahe. Nahe genug. Zu nahe: „Im Kommunikationstyp für Intimbeziehungen ist es nicht erlaubt, Persönliches der Kommunikation zu entziehen.“ Amos Oz hat das Hingezogen-Sein und das Sich-Entziehen mit dem Verhalten von Igeln in Sibirien verglichen: Sie rücken in der Kälte auseinander, um nicht zu frieren. Dann stechen sie sich und rücken wieder auseinander und fangen wieder an zu frieren. Zusammen und auseinander. Immer wieder. So einfach ist das mit Beziehungen. Und so kompliziert. Wir schließen sie, stolpern in sie hinein, vernachlässigen sie. Sie sind gewollt, ungewollt, hoffnungslos, zu eng, zu lose, zu unklar, zu einseitig, zu eindeutig.

Die alltäglichen, sozialen Gefüge von Familie, Freundschaft, Gemeinschaft und Netzwerken haben sich verändert und verändern sich weiter: Freizeit- und Berufsbeziehungen sind oft nicht mehr klar unterscheidbar. Was definieren wir als Beruf, was als Privates? Wie gestalten Beziehungen unseren Alltag? So wie sich Arbeitsstrukturen, Zeitgefühl oder das Verhältnis von Sesshaftigkeit und Mobilität ändern, so verschiebt sich analog das Verhältnis von Menschen untereinander. Nutzen und Zweck einer Beziehung rücken in den Vordergrund und bestimmen die Konjunkturen von Nähe und Ferne. Oft entsteht ein paradoxer Zustand, der geprägt ist von pragmatischer Zweckorientiertheit und jener hingebungsvollen Uneigennützigkeit, die für echte Freundschaft zu stehen scheint. Denn natürlich ist Nähe und Ferne zwischen Menschen nicht nur eine ökonomische Kategorie. Beziehungen sind auch affektiv, sind emotional, sind ###manchmal völlig nutzlos oder gar schädlich, kontraproduktiv, zerstörerisch. Die Intensitäten von Beziehungen können nicht nur nach ihren strategischen und kalkulatorischen Kriterien beurteilt werden. Wir haben das – naive oder realistische? – Bedürfnis, unsere Beziehungen aus ökonomischen und politischen Debatten herauszuhalten. Momente des Vertrauens, der Liebe, der Sehnsucht kann nur erfahren, wer nicht rein zweckorientiert empfindet. Dennoch: Ökonomische Bedingungen unseres Lebens bestimmen auch wie nah oder fern wir von- oder miteinander leben und wie sehr sich Privates und Öffentliches miteinander vermischen. Umgekehrt fördert oder hemmt die Art unserer Beziehungen, unseres Zusammenseins auch unsere Kreativität und Produktivität.

Welche Modelle, welche Orte, welche Möglichkeiten oder gar Utopien des Zusammenseins gibt es? Ist Komplizenschaft mit ihrer ambivalenten (Judith Butler), halbillegalen und subversiven Energetik eine zeitgemäße Form des Zusammenseins? Oder ist es  Freundschaft, deren Faszination vor allem in der doppelten Struktur von Politischem und Unpolitischem (Jacques Derrida) liegt? Ist Freundschaft die Bedingung des Denkens und damit der Kreativität schlechthin (Gilles Deleuze)? Ist Veränderung und damit Rebellion gar ein, wenn nicht das Projekt der Liebe (Antonio Negri)? Oder ist sie im Gegenteil derjenige Fall, der mit der allergrößten Wahrscheinlichkeit am aller wenigsten eintreffen wird (Niklas Luhmann)?
Dieses Zuviel und Zuwenig, dieses nie richtig sein, dieses Paradox, das gleichzeitig Triebfeder zwischenmenschlicher, politischer, künstlerischer und performativer Kraft und Motivation ist, ist das Leitmotiv der Spielfeldforschung des steirischen herbst und das Thema der Walking Conference.
 
Walking Conference

Sich in Nähe oder Distanz zu etwas oder jemandem zu positionieren ist kein statischer ###Zustand, sondern eine Bewegung, ein ständiges Verändern der Verhältnisse und ein Anpassen der Abstände.
Der steirische herbst sucht nicht nur nach immer neuen Formen der Kunst sondern auch nach anderen Formaten der theoretischen Reflexion, einer Reflexion in Bewegung: So durchzieht das Festival 2007 eine Walking Conference, die Teil der Spielfeldforschung, dem theoretischen Rückgrat des Programms, ist. Die Spielfeldforschung des steirischen herbst ist keine akademische Schiene, die sich der Kunst als Objekt nähert, sondern findet Formate, die sich selbst der Kunst aussetzen. Mit der Vorstellung einer „Theorie des Umherschweifens“ (Guy Debord) werden verschiedene Formate entwickelt, die in enger Verflechtung mit dem Spielplan des Festivals Möglichkeiten bieten, vor Ort in der Stadt Graz an kleinen und großen Veranstaltungen auf bekannte und noch zu entdeckende Künstler, Theoretiker und Aktivisten zu treffen. Vermittelt sich die Theorie anders, wenn sie in anderen Formaten dargestellt wird? Wie kann Theorie an Orten und konkreten Geschehnissen vor Ort überprüft werden? Diese Fragen thematisiert die Spielfeldforschung, indem sie ihren Inhalt nicht vom Format trennt.

Die Struktur

Die Walking Conference findet im Rahmen des steirischen herbst am 13. Oktober 2007 statt und legt Spuren durch die Stadt Graz und das Festival. Es beginnt mit einem gemeinsam Panel, bei dem das Themenfeld des „Nahe genug“ aufgerissen wird: Drei Theoretiker der Nähe und Distanz auf sehr unterschiedlichen Gebieten geben den Grundton der Konferenz vor. Später werden sie, verteilt in der Stadt, den verschiedenen Walks als „Audienzen“ zur Verfügung stehen und so die Möglichkeit zum intensiven Austausch in kleinen Gruppen bieten.

Nach der einführenden Runde brechen die sechs Walks (mit jeweils ca. 15 Teilnehmern) auf um für drei Stunden durch die Stadt zu ziehen. Geführt werden die Walks von Theoretikern ###und Theoretikerinnen mit unterschiedlichen Schwerpunkten, die wiederum Gäste als Co-Guides einladen und/oder entlang des Weges bei anderen lokalen oder von auswärts kommenden Experten halt machen werden. Die Wahl des Gastes sollte zur thematischen Ausrichtung des Walkes passen: Wer einen Walk zum Thema Freundschaft macht, kann einen Freund einladen, wer das Thema Liebe wählt, kann den Walk mit einer aktuellen oder ehemaligen Liebschaft durchführen, wer das Feld Arbeit wählt, kann eine Arbeitsbeziehung mitbringen, wer über bestimmte Kunst reden möchte, kann genau diese bestimmten Künstler zum Walk laden.

Die Orte, die während des Walks angesteuert werden, sind vielfältig: Parks, Straßenzüge, historische und neue Gebäude und Plätze, Cafés, Kaufhäuser und andere Unorte. Schwimmbäder, private Wohnungen, Ausstellungs- und Aufführungsorte im Festival. Einige Walks werden sich unterwegs treffen, andere gehen ihre eigenen Wege, wieder andere drehen sich vielleicht absichtlich im Kreise, andere teilen die Stadt in Figuren ein, denen sie streng entlang laufen - die Formen des Bewegens sind unterschiedlich, sie sind auf das Thema abgestimmt. Am Ende des Tages treffen sich die Walks wieder zu einem gemeinsamen abschließenden Vortrag, zum Austausch und Ausklang...

Florian Malzacher & Gesa Ziemer




20/09 - 14/10/2007
steirischer herbst
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