steirischer herbst 2007
Falter Steiermark - 11.10.2007
Krautrock, endlich kapiert
HERBST-TAGEBUCH III Hörfestspiele beim steirischen herbst: Eiswürfel für die Ohren, jede Menge nachwachsender Instrumente und Frankfurter für Kurt Palm.

3.10.2007 Manchmal kommen die Menschen zum steirischen herbst, manchmal kommt der
herbst ganz nah zu den Menschen. Beides sehr o. k., wie man am Mittwoch erleben konnte.
Zunächst besuchte Wolfgang Dokonal mit seinen Studierenden vom Institut für Städtebau die
schönen Barockräume des Palais Attems, in denen der herbst residiert. Die jungen Menschen
hinterließen eine Fülle schöner Pläne, professionell gebaute Modelle - und eine unsittliche Idee.
Ein Semester lang hatten die Studenten nämlich darüber nachgedacht, wie denn ein neues
Festivalzentrum für den herbst aussehen könnte, dafür verschiedene Standorte - vom
Pfauengarten bis zum städtebaulich stark unterbewerteten Kapistran-Pieller-Platz - ins Auge
gefasst und munter drauflosgeplant. Ausgangspunkt war unter anderem die Vermutung, dass ein
derartiges Zentrum die Sichtbarkeit des herbst erhöhen könnte, auch wenn das Festival gerade
einmal nicht stattfindet, was ja die meiste Zeit des Jahres der Fall ist. Das ganze Jahr über
herbst? Diese Vorstellung bereitet dem Tagebuchschreiber nicht geringe Sorge.

Sorglos ging's dafür am Abend bei Familie Stachl/Kerschbaumer zu. Kurt Palm war auf Besuch,
hat im Lesesessel vor der eindrucksvollen Familienbibliothek - von Bataille bis Marx: alles da -
Platz genommen und den Gästen in entspannter Atmosphäre Stifter-Schnurren erzählt, über
Kafkas und Mozarts Ernährungsgewohnheiten geplaudert und den einen oder anderen Text
verlesen. Bier Brote Frankfurter sehr sehr gut. Wilder soll's ja bei anderen der insgesamt 24
"Hausbesuche", dem diesjährigen Beitrag des Literaturhauses zum herbst, zugegangen sein. Vor
allem von Michael Stavaric ist geradezu Unglaubliches überliefert. Polizeihelm-Disco im
Morgengrauen! Say no more.

5.10.2007 Sonst war's sehr sittsam, der herbst hat diese Woche dem musikprotokoll den Vortritt
gelassen, das ja heuer auch seinen vierzigsten Geburtstag begeht. Und dort hat "Sause" immer
schon eine andere Bedeutung gehabt. Nur eine theatralische Miniatur stand im "Theatre" am
herbst-Programm. "Orthographe de la physionomie en mouvement" entführte die Besucher in
einen intimen Erinnerungsraum in Form einer Camera Obscura, gespeist aus gespenstischen
Assoziationen zu den Hysterie-Studien von Jean-Martin Charcot aus dem späten 19.
Jahrhundert. Da werden selbst das Rascheln von Bettwäsche und das Kratzen einer Feder zum
Ereignis. Sehr flüchtig.

Seltsame Geräusche aus obskuren Quellen waren naturgemäß auch zentrales Thema beim
musikprotokoll. Hanna Hartmann, eine weitere Exponentin der dieses Jahr offenbar vollzählig
nach Graz angerückten schwedischen Kunstszene, ließ Eiswürfel auf Herdplatten schmelzen,
Zwiebel in Töpfen brutzeln und entlockte Tauen tolle Knarzlaute, beging aber den Fehler, dazu
Zauberbewegungen à la Bobby Lugano und esoterische Gonglaute zu produzieren. Wie man
alles richtig macht, führte im Anschluss Pierre Bastien vor, der eines seiner selbstgebastelten
mechanischen Orchester - Plattenspieler, Akkordeon und jede Menge Zahnräder inklusive - mit
Taschentrompete begleitete und den Dom im Berg in eines dieser verbotenen französischen
Bistros verwandelte, in denen Boris Vian einst den Jazz umarmte. Klarer Wochensieger.

6.10.2007 Das musikprotokoll kann sowieso fast alles: die eigene, vierzigjährige Geschichte in
Würde vermitteln, zum Beispiel. Die wunderbare Installation im Stadtmuseum glänzte mit
kurzweiligen Hörschnipseln aus jedem Festivaljahr, der Jubel-Dokufilm unter anderem mit einem
legendären Interview, das Karl Löbl mit György Ligeti führte, gefilmt durch ein belebtes Forellen-
Aquarium.

Überhaupt: Was die sich in den Siebzigern alles getraut haben! Nackte Fische, nackte Leiber -
Letzteres gibt's etwa in der Ausstellung von Friedrich Cerhas bildnerischem Werk zu bestaunen,
die Emil Breisach mit Günther Eisenhut am Freitag in der Galerie remixx eröffnete. Pralle Busen
in Öl und ein Gläschen Rotwein: keine jungen Wilden, aber ein grundsympathischer off-off-herbst-
Event. Der 81-jährige Cerha ist trotzdem zu Recht für seine Musik berühmt geworden. Und durfte
daher auch das samstägliche Festkonzert im Stefaniensaal dirigieren, zum Abschluss gar sein zu
Gedichten Emil Breisachs komponiertes Konzert "Aderngeflecht". Keine Gute-Laune-Musik, eh
klar. Aber eine schöne Verbeugung vor den beiden alten Herren, die jeder für sich ein Stück
Kulturgeschichte geschrieben haben.

Zwei Kontrapunkte: Tagsüber entlockten Anita Hofer, Cloed Baumgartner, Jogi und Reni
Hofmüller im Thonet-Shop mit "Sewteeth Vol. 05" alten Nähmaschinen allerhand neues
Geräusch, abends glänzte das routinierte Wiener Gemüseorchester mit Rhythmen auf
nachwachsendem Instrumentarium. Mit Blubber-Radi, Karotten-Xylo und Gurkenseufzofon
spielten sich die zehn Gemüsikanten durch Klassiker der elektronischen Musikgeschichte und
brachten neues Material. Nach einer fünfminütigen Rifforgie auf Kohlhäupteln haben dann auch
die letzten kapiert, was mit Krautrock eigentlich gemeint war.

Thomas Wolkinger



20/09 - 14/10/2007
steirischer herbst
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