steirischer herbst 2007
Kleine Zeitung - 22.09.2007
Vom Verhalten der sibirischen Igel
Gestern Abend hielt Intendantin Veronica Kaup-Hasler in der Helmut-List-Halle die Eröffnungsrede zum "steirischen herbst 2007". Wir bringen sie hier in Auszügen.

Ein wichtiger Impuls für den diesjährigen steirischen herbst war die Auseinandersetzung mit
dem Begriff "Nahe genug". Er beschreibt einen performativen Zustand. Es geht um die Bewegung
zueinander und voneinander weg, um die verschiedenen Möglichkeiten von Nähe und Ferne.
"Nahe genug" meint die Kunst des richtigen Abstands in Naheverhältnissen. Sie gilt sowohl für
Liebe als auch für Arbeitsverhältnisse, für ästhetische Erfahrungen als auch für die Politik.

Amos Oz hat das Hingezogen-Sein und das Sich-Entziehen mit dem Verhalten von Igeln in
Sibirien verglichen: Sie rücken in der Kälte aneinander, um nicht zu frieren. Dann stechen sie
sich, rücken wieder auseinander und fangen wieder an zu frieren. Zusammen und auseinander.
Immer wieder. So einfach ist das mit Beziehungen. Und so kompliziert.

"Nahe genug", das ist ein Sehnsuchtsort, wenn er entfernt ist, und ein Zuviel, wenn er erreicht
ist. So ist es in der Liebe, in Freundschaften, Familien und anderen sozialen Gefügen des Alltags.

So ist es auch auf dem etwas weiter gefassten Feld der Politik. Wer Abkommen, Gesetze oder
gar Verfassungen macht, befindet sich in permanenten Statusverhandlungen. Dieser Status wird
im Spannungsfeld von Nähe und Distanz verhandelt, indem Übereinstimmungen und
Differenzen, Rechte und Pflichten, Grenzziehungen und Grenzöffnungen diskutiert werden. Wie
eng ist Europa tatsächlich aneinander gerückt? Welchen Status soll die Türkei im Verhältnis zur
jetzigen Europäischen Union erhalten? Wie nah ist Afrika? Vom spanischen Festland weg nur 14
Kilometer. Doch auf beiden Seiten der Straße von Gibraltar werden fast täglich ertrunkene
Flüchtlinge an den Strand gespült.

Engstirnige Debatte

Und so ist - um ein aktuelles Beispiel aus Österreich zu nennen - auch bei uns eine aufgeheizte
und undifferenzierte Diskussion zum Thema Islam und Integration im Gange. Ich frage mich:
Inwieweit ist dies nicht auch Ergebnis eines falschen Identitätsbewusstseins und einer fehlender
Unterscheidungsfähigkeit, wie wir Nähe und Ferne zu anderen Kulturen bestimmen? Sind wir uns
der eigenen Werte bereits so unsicher geworden, dass uns die gelebten Werte der anderen
bedrohen? Müssen Grenzziehungen gegenüber einem radikalen Islamismus einhergehen mit
einem Pauschalverdacht und einer Abwertung von Kultur und Glauben der friedlich in Österreich lebenden
Muslime? In dieser Logik der Einfalt wird plötzlich das Kopftuch und der Bau von Moscheen zum
Zankapfel in einer engstirnigen populistischen Debatte. Von "den Anderen", die man nicht kennt,
nicht versteht und weiterhin wie Fremde behandelt, wird Integration in unsere "Leitkultur"
gefordert. Wer würde sich gern in so eine "Kultur" integrieren, die auf den Anderen als Bürger
zweiter Klasse herabblickt?

Denunzierung

Wer wird sich im Dialog öffnen, wenn die eigene Religion als implizit gewalttätig denunziert
wird? Wer wird denn an so genannte "europäische Werte" glauben können, wenn man dann im
Alltag ihr Gegenteil erlebt: Ausschluss, Desinteresse, fehlende Bildungschancen, mangelnde
Möglichkeiten der Mitbestimmung und Mitgestaltung in unserer Gesellschaft?

Wer auf diese Probleme nicht "Nahe genug" hinsieht, unterminiert als Politiker eine Säule des
demokratischen Grundverständnisses: die der Glaubensfreiheit.

Auch in der zeitgenössischen Kunst wird der performative Zustand des "Nahe genug" inszeniert
und rezipiert. Im Ästhetischen sind wir ständig mit dem Zwiespalt konfrontiert: Wir nehmen teil
und wissen, dass es schon vorbei ist. Ein Prozess, kein Produkt. Bewegung, nicht Statik. Oft
kommt Kunst gerade dann nah, wenn sie uns überlistet, wenn sie schneller, langsamer, schlauer
oder naiver ist als die eigene Wahrnehmung.

Die heurigen Kunstwerke sind fast ausschließlich neue Arbeiten, die für und durch den
"steirischen herbst" entstanden sind. Das ist nicht ohne Risiko - schließlich weiß man vorher nicht
genau, wo der künstlerische Prozess hinführen wird. Aber es ist wichtig, diese Tradition zu
wahren: Kunst zu ermöglichen, nicht nur vorzuführen.




20/09 - 14/10/2007
steirischer herbst
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