steirischer herbst 2007
Falter Steiermark - 03.10.2007
Männerhintern im Herbstlicht
Wie charmant ist schlechter Geschmack? Die zweite Theaterwoche des steirischen herbst strapaziert mit drei Stücken die Lachmuskeln. Und andere Körperteile.

Glauben Sie dem "herbst"-Programmheft gar nichts. Denn eigentlich müsste dort zur
Uraufführung "Time Republic" von andcompany&Co Folgendes zu lesen sein: "30% Ostalgie,
20% Kindheit im Kalten Krieg, 20% Science Fiction für Anfänger, 10% Bummelwitz unter der
Trockenhaube, 10% John Lennon und 10% Wahnsinn." Das multinationale Kollektiv
andcompany&Co setzt auf eine musikalisch verstärkte Weltmaschine aus Bauteilen, die gerade
eben in Mode, aber doch schon nicht mehr ganz angesagt sind. Dafür präsentieren sie ihr Opus
mit umso mehr Hingabe. Die Verwirrung der Zeiten ist in "Time Republic" schon auf der
vollgestellten Bühne abgebildet, unter die Requisiten und Instrumente ist Spielzeug gemischt.
Selbst die Aktionen auf der Bühne werden formal von Kinderspielen getragen - als wollten
andcompany&Co dem inhaltlichen Fokus auf die geopolitische Welt ihrer ersten Lebensjahre
auch eine ästhetische Entsprechung verleihen. Dabei wechseln die sieben Darsteller zwischen
Action und Ruhe, turnen, kommandieren, spielen, musizieren, verkleiden sich und tragen
Märchen vor. Die quasireligiöse Verehrung eines Lenin wird konsequent und esoterisch
fortgesponnen, der Kommunismus gerät zur spirituellen Idee, die sich jenseits der Grenzen von
Zeit und Raum entfaltet, Anspielungen irrlichtern im Dauerfeuer durch den Text und sorgen für
Sachen zum Lachen. Möglich, dass das alles ein genialer Spaß ist, aber das können
andcompany&Co in ihrer trockenen Anstrengung nicht vermitteln. Und möglich, dass der Abend
starke poetische Momente hat, aber die Zeit, die sich die Truppe nimmt, diese auszukosten, hat
das Premierenpublikum mitunter reichlich nervös gemacht.

Das zuweilen zähe Verrinnen von Zeit ist auch ein zentrales Moment der Arbeit des Nature
Theater of Oklahoma. Doch bei ihrem Stück "No Dice" (zu Deutsch: "Vergiss es") steht die
Langsamkeit des Gezeigten ganz im Gegensatz zu der Geschwindigkeit dessen, was wirklich auf
der Bühne passiert: Denn die Damen und Herren aus New York haben Stöpsel in den Ohren,
über die ihnen Telefongespräche zugespielt werden, die sie dann synchron (!) wiedergeben. Was
erklärt, weshalb sie beim Reden immer wieder angestrengt verzerrte Gesichter schneiden. Die
Gründe für die vollkommen im Nirvana des schlechten Geschmacks aufgelesenen Bühnen-Outfits
liegen hingegen im Dunkeln, ebenso die Motivation der immergleichen Gesten, mit denen sie den
Text unterstreichen, als wollten sie ein neues Gehörlosenalphabet etablieren. Das Nature
Theater of Oklahoma setzt bei alldem auf die theatralisch-poetische Überwindung selbst gestellter
Fallen und Hindernisse. Dafür braucht es Kraft und Konzentration - die der Gerechtigkeit halber
auch vom Publikum gefordert wird. Drei Stunden lang. Zur Stärkung gibt es Sandwiches und
Cola. Und seltsam, aber wahr: Die Rechnung geht auf, das Auditorium erliegt dem Charme der
Telefonkonversation und ihrer Übersetzung ins Schauspiel. Unterhaltung ist ein weites Feld.

Wie die Liebe. Die ist auch ein weites Feld. Das ist angesichts der Bühne für "Zwischen
Knochen und Raketen" des Theater im Bahnhof (TiB) unübersehbar. Ein Acker neben der alten
Reininghausbrauerei ersetzt die Bretter, die die Welt bedeuten, mit etwas Glück blickt das
Publikum in den Sonnenuntergang und in jedem Fall auf ein paar TiB-Darsteller, die sich in der
Ferne playback zu ihren aufgezeichneten Stimmen bewegen. Nahe genug? Helmut Köpping und
Team haben Veronika Kaup-Haslers Festival-Motto beim Wort genommen und ausprobiert, wie
viel Distanz Theater verträgt. Und wie viel Nähe. Stichwort Sex, Porno, nackte Männerhintern im
Herbstlicht. Mit dem Effekt, dass die fast unentwegt kopulierenden Pärchen für das Publikum
weit weniger interessant sind, als für die Insassen der vorbeirollenden Autos. Die zahlenden
Zuseher können sich inzwischen auf den Text konzentrieren. Das Stück folgt über weite Strecken
dem simplen dramaturgischen Kunstgriff, dass jedes Wort, jedes Hecheln Sex meint, solange
kein Sex zu sehen ist. Wenn es aber zur Sache geht, kommen die Herren ins Fabulieren, sie
breiten Erzählungen aus, Reiseberichte, Szenen, die urkomisch sind, beschaulich oder
nebensächlich. Die Assoziationen, die das TiB durch den Text legt, umschlingen die Kulturen der
postkommunistischen Länder, eine ferne Welt, die auch vom Pornobusiness in unsere
Videotheken und Wohnzimmer getragen wird. Aber keine Angst: Das Stück ist nicht von Ulrich
Seidls "Import Export" inspiriert, das TiB bleibt witzig. Und wie! Die Treffsicherheit und der
Einfallsreichtum, mit dem die Pointen zwischen Text und Darstellung hin und her hüpfen,
verblüffen immer wieder. Kompetente Verstärkung finden die TiB-Mimen Gabriela Hiti, Elisabeth
Holzmeister und Rupert Lehofer bei Jacob Banigan und Pawel Permjakow (vom Art&Shock
Theater aus Kasachstan).

Hermann Götz



20/09 - 14/10/2007
steirischer herbst
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