steirischer herbst 2007
Falter Steiermark - 03.10.2007
Eine kleine Kopfmusik


NEUE MUSIK Das musikprotokoll des steirischen herbst feiert 40 Jahre. Ein Gespräch mit
Intendant Christian Scheib über das Wesen zeitgenössischer Musik, private Hörgewohnheiten
und Premierenwatschen.

Klangkünstler Lionel Marchetti hat gespielt und ist schon wieder weg, das Staalplaat
Soundsystem ließ die Helmut-List-Halle eher zittern als beben, Francisco Lopez und Phillip Jeck
sind gerade erst eingetroffen. Das musikprotokoll kommt diese Woche richtig in die Gänge.
Innerhalb eines Bienenschwarms an Neuer Musik, der elektronisch summt und musiktheoretisch
brummt, bleibt einer ganz gelassen: Intendant Christian Scheib. Zusammen mit ORF-Kollegin
Susanna Niedermayer hat der Ö1-Redakteur die Ehre, das Festival in die vierzigste Runde zu
geleiten.

Was darf man heuer erwarten? Notations-Avantgarde, abstrakte Elektronika, große Namen wie
Friedrich Cerha oder Beat Furrer, vielversprechende Kompositionstalente wie Peter Jakober
(siehe Artikel rechts) oder Bernhard Gander, lustige Outsider wie Felix Kubin oder Pierre Bastien
und Lokalprominenz wie Michael Pinter. Wo und wie das musikprotokoll in den letzten
Jahrzehnten Grenzen überschritten hat, kann man übrigens anhand einer wohltuend dezenten
Audio-Werkschau bis 7. Oktober im Grazer Stadtmuseum überprüfen.

Programmdirektor des musikprotokoll wurde Scheib bereits 1995. Eine Position, um die er nicht
unbedingt zu beneiden ist. Eine ständige Gratwanderung zwischen künstlerischem Risiko,
Experiment, Tradition und dem Brückenschlag zwischen den Generationen. Da geht es zuhause
schon mal beschaulicher zu.

Falter: Was hören Sie jetzt im größten Stress privat?
Christian Scheib: In der Früh habe ich CocoRosie laufen gehabt, am Nachmittag den
englischen Komponisten und Sänger David Sylvian. Ich höre natürlich zuhause nicht ständig die
Komponisten des musikprotokoll. Es gibt aber Grenzfälle. Wenn ich privat Christian Fennesz
einlege, dann bin ich plötzlich in einer Gegend von Künstlern, die ich auch einlade.

Kennen Sie Leute, die schwer verdauliche Kompositionen zuhause hören?
Schon. Aber die Musik ist ja größtenteils nicht dafür gemacht, dass man sie zuhause hört. Das
war nie so. Man hat sich vor vierzig Jahren auch nicht dauernd Stockhausen-Platten reingezogen.
Die Musik hat einfach eine Intensität für gewisse Momente.

Wozu dann überhaupt Tonträger?
Man würde gewisse historische Entwicklungen nicht sehen. Was es schlussendlich für ein
Format wird, sollte eine Entscheidung zwischen Marketing und künstlerischer Haltung sein.
Sicher gibt es Freaks, die sich gewisse Sachen öfter anhören. Aber wer hat sich schon wirklich
Stücke vom Label Mego länger angehört? Das hält man teilweise keine vier Sekunden aus, außer
man will wirklich in diesen Lärm hineinkriechen. Live, wenn alles bebt, ist das völlig anders.

Hören Sie Kompositionen mit dem Kopf oder auch mit dem Bauch?
Ich habe immer versucht, Formulierungen zu finden, die diese Trennung vermeiden. Es gibt
zum Beispiel "Das musikalische Opfer" von Bach, ein unendlich kompliziertes Stück. Trotzdem ist
es irrsinnig schön. Es hat keinen Sinn, das Hirn und die Emotion zu trennen. Die Emotion
funktioniert besser, wenn das Hirn angeregt wird. Und umgekehrt. Wenn das Hirn nichts checkt,
kommt kein Erfahrungsschatz in den Bauch.

Wie viel intellektuelle Arbeit kann man dem Publikum zumuten?
Ich stehe zu der Eingangsschwelle, die zuerst Hirnarbeit verlangt, damit man dann emotional
werden kann. Ich glaube, dass gute Musik das braucht. Wenn ich das musikprotokoll
programmiere, wähle ich Dinge, von denen ich weiß, dass man als Zuhörer eine Art von
Rechenprozess benötigt. Natürlich gibt es auch für mich problematische Fälle. Wir haben im
Theatro damals die Röhre von Franz Pomassl aufgestellt. Da bin ich drinnen gestanden und habe
mir gedacht: Was ist jetzt überhaupt los? Da brummt ein subsonisches Ding, das mehr meine
Hosen flattern macht als mich, und der Herr Künstler, so sehr ich den Pomassl mag, geht hin und
wieder zu seinem Laptop, verschiebt etwas und geht wieder in die Garderobe. Ich verstehe, wenn
sich das Publikum hin und wieder vor den Kopf gestoßen fühlt.

Anfang des Jahrhunderts hat sich das Publikum bei gewissen Premieren noch abgewatscht.
Ob ein Stück als Skandal funktioniert, hat nichts mit der Phänomenologie des Klanges zu tun.
Was die Menschen bei "Le sacre du printemps" von Strawinsky oder bei Schönberg-Konzerten
zum Abwatschen und Beleidigen geführt hat, hatte ja nur vordergründig etwas mit den Tönen zu
tun. In Wirklichkeit wurden Etiketten und Haltungen verletzt. Und Identitäten in Frage gestellt. Die
Frage war: Was ist in unserer Gesellschaft Kunst? Wenn Mego heute Krach macht, verletzen sie
keine Lebenshaltungen mehr. Auch wenn man im Musikverein ein wildes neues Stück spielt, ist
die Gesellschaft aufgeklärt genug, sich nicht attackiert zu fühlen. Heute muss man nicht mit einer
Watsche seinen Lebensentwurf verteidigen. Über abstrakte Kunst ist niemand mehr zu
beleidigen. Wenn heute Leute Buh rufen, gehört das zu meinem Berufsrisiko

Kein Quotendruck?
Man muss das pragmatisch sehen. Wenn ich im Stefaniensaal veranstalte, wäre ich frustriert,
wenn statt 1200 nur 20 Leute kommen. Also versucht man eben je nach Projekt eine Umgebung
zu finden, die stimmig ist. Das kann man ja vorher absehen, und es hat auch meistens
funktioniert. Würde ich spüren, dass die Stadt völlig am Festival vorbeilebt, dann hätte ich eine
Krise.

Welche Entwicklungstrends kann man in den letzten vierzig Jahren Neue Musik beobachten?
In den Siebzigern ist ja alles ausprobiert worden, vieles wurde vergessen. Dann ist die Musik für
eine Zeit absehbarer geworden. Eine Generation von Komponisten hat wieder Violine- und
Cellokonzerte geschrieben. Seit fast zwei Jahrzehnten gibt es aber wieder vieles jenseits des
Konzertsaals, des Streichquartetts und des Symphonieorchesters. Als ich 1995 begonnen habe,
integrierte ich wieder stärker Konzeptuelles und Multimediales, das war zu der Zeit bei Festivals
zeitgenössischer Musik noch unüblich. Man könnte das musikprotokoll auch ohne
Grenzüberschreitungen machen, ich würde es fad finden. Da krieg' ich lieber eine auf den Deckel,
wenn etwas nicht funktioniert.

Gibt es wirklich noch Neues, Ungehörtes?
Schwierige Frage. Sicher noch innerhalb gewisser Genres. Wie Georg Friedrich Haas zu
seinem speziellen "Ton" gefunden hat, vor mehr als zehn Jahren, da hat er sich in einen
Klangrausch begeben. Da habe ich mir gedacht: "Pfaaah. Da hat einer was gefunden." Auch bei
dem dreiviertelstündigen Bernhard Lang-Stück "Differenz/Wiederholung 2" bin ich im
Stefaniensaal gesessen und habe das Gefühl gehabt, es drückt mich zurück, weil es ein völlig
neuer Gestus war. Und wenn man neue Technologien etwa anders verwendet, passiert immer
was Neues.

Sprechen Sie heute noch von einer Grazer Schule?
Das würde ich als Begriff vermeiden. Graz hatte in den letzten 15 Jahren - was die
Komponisten betrifft - sicherlich die interessanteste Musikhochschule. Gerd Kühr, Beat Furrer und
Georg Friedrich Haas haben in Graz und nicht in anderen Bundeshauptstädten unterrichtet. So
etwas fluktuiert natürlich. Da muss die Uni bei Nachbesetzungen immer dranbleiben. Nachdem
der Komponist Klaus Lang jetzt zumindest eine halbe Professur hat und das Institut für
Elektronische Musik mit Robert Höldrich quasi in der Champions-League spielt, sind die
Voraussetzungen nach wie vor gut. Nur glaube ich, es macht keinen Sinn, es "Schule" zu
nennen. Komponisten verbringen einfach einen Lebensabschnitt in der Stadt. Wenn die Stadt es
schafft, daraus einen Mehrwert zu generieren, dann ist das gut.

Das Einzige, was beim musikprotokoll sicher nicht neu ist, ist sein Intendant. Wie lange wollen
Sie noch weitermachen?
Meine Intendanz wird sicher nicht ewig dauern. Gerade zum Jubiläum hab' ich mir gedacht, na
servus, ich mach' das aber schon lange. Abnützungserscheinungen sehe ich noch keine,
daneben gegriffen habe ich aber auch mal in frühen Jahren. Kann man es sich zutrauen, über
mehr als ein Jahrzehnt immer wieder Dinge zu finden, die diese Idee von Aufbruch rechtfertigen?
Ich sage ja. Aber dass ich es schon so lange mache, hat natürlich etwas Widersprüchliches in
sich.

Walter Brantner und Tiz Schaffer



20/09 - 14/10/2007
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