www.nachtkritik.de - 28.09.2007
Time Republic – andcompany&Co. in Graz
Wie Lenin einmal einen Stromschlag erhielt
»online
Was auf den ersten Blick wie eine seltsam anmutende
Beleuchtungsabteilung eines Möbelhauses wirkt, entpuppt sich auf den
zweiten als Spielwiese für Licht, Ton und Bewegung. Sieben verschieden
geformte kleine Gerüste, jedes mit einer überdimensionalen Glühbirne
und einem Lesepult ausgestattet, bilden das nötige Equipment für einen
Abend aus kommunistischen Fakten und Fiktionen.
Die sieben Performer (Bini Adamczak, Noah Fischer, Alexander Karschnia,
Vettka Kirillova, Nicola Nord, Sascha Sulimma, Serjoscha Wiemer &
Co.) nehmen in Star-Trek-ähnlicher Kostümierung (violette Hemden mit
Glitzerstreifen und weißem Schuhwerk) Position ein.
Zeitreise in die Möglichkeit
Black. Ein Pappkreis mit Schnurrbart und Augen aus Glühlampen spricht als president of the US
zum Publikum. Er wirkt in seiner Kleinheit wie ein lächerlicher
Vollmond, der über den Akteuren schwebt. Während seiner Rede, in der er
sich um den little man sorgt, blinken sämtliche Glühlampen an
ihm und um ihn. Durch den manuellen Stroboskopeffekt ein rasanter
Einstieg in den Abend im Grazer Dom im Berg. Eine Veranstaltungsstätte,
die sich inmitten einer in steingehauenen Passage durch den Schloßberg,
befindet.
Black. Ausgehend vom Jahr 1957, in dem die Sowjetunion den ersten
Sputnik in den Weltraum schoss, wird hier die Utopie eines möglichen
kommunistischen Systems der heutigen (unsrigen) Gegenwart erzählt. Die
Teilnehmer dieser Zeitreise (die Temponauten) begeben sich in die
Irrealis. Temponauten dürfen in der Vergangenheit nichts verändern, das
die Zukunft beeinflussen könnte. Sie begeben sich in einen Raum, der
nur in der Möglichkeit besteht (die Irrealis), und behaupten ihn als
eventuell irgendwo gegeben: als Utopie.
Diese Behauptung allerdings wird in erster Linie im Programmheft
aufgestellt. Der Abend selbst besteht eher aus einer Aneinanderreihung
politisch-historischer Ereignisse rund um die USA und SU, die die
Wahrheit hernehmen und sie ein bißchen verdrehen, weiterspinnen –
märchenhaft und unterhaltsam auf die Bühne bringen.
Die Geschichte wird ab einem wichtigen Punkt erzählt, dem nuclear
freeze. Als nun der erste Sputnik die Erde umkreiste und Wellen zu eben
dieser sendete, bekam es die USA mit der Angst zu tun. Denn wenn die
Sowjetunion in der Lage war einen "Begleiter" ins All zu schießen, war
sie sicher auch in der Lage eine Nuklearwaffe gen USA zu steuern. Oder?
Radeln für Lenin und die Lampen
"Time Republic" versteht sich als Weiterentwicklung früherer Arbeiten der Gruppe andcompany&Co.
Nicola Nord & Co. arbeiteten schon in mehreren Bühnenwerken
("Archive for Utopias, Lost and Found","little red (play) – herstory")
mit der verloren gegangenen Utopie des Kommunismus. Eine Figur dieser
Arbeiten ist Little red, die die DDR in ihrer Kindheit und Jugend vom
Westen aus miterlebte. Little red versteht sich auch als das
Künstler-alter ego Nords. Bei "Time Republic" wird der Charakter
weitergesponnen und es gibt nun auch Little blue.
Wie gesagt: Black, und langsam wird es wieder hell. Die Performer
setzen zu einer Art Rap an. "Everybody is talking about ... communism,
socialism, Irak, Iran, etc." (Von fern fühlt man sich an Billy Joel und
"We didn’t start the fire" erinnert.) Doch hier ist endgültig Schluss
mit Intro.
"Als Lenin klein war ..." ist der eigentliche Einstieg in den Abend.
Anhand Lenins (angenommenen) Träumen, die er als Kind (eventuell)
hatte, wird die Idee des Kommunismus sowie die "zufällige" Geburt des
Sputniks beschrieben. Zum einen wird von einen Stromschlag erzählt, den
Lenin als Kind erlitt und den er als Impfung mit power
verstand. (Eine der Performerinnen sitzt dabei auf einem Fitnessrad
und tritt in die Pedale, als ob sie damit den notwendigen Strom
für die Glühbirnen erzeugen würde.) Zum anderen geht es um seine Hündin
Laika. Laika, die später mit Sputnik III ins All flog, wird als ganz
besonderer Hund dargestellt. Und zwar als einer, der zwar nur drei
Beine hatte, aber wie ein Luftballon schweben konnte.
Pracht, Solidität, Ratlosigkeit
"Do it! Do it! Do it!" Wie in einer Gameshow wird die Angst der USA vor
der Sowjetunion in einem Text ausgedrückt, der wie unter Zeitdruck von
einem immer anderen Performer wiederholt wird. Als Unterbrechung ertönt
das gemeinsame "Do it!", welches zum musikalischen Refrain aus
Minischlagzeug und Minigeschrei wird.
Immer wieder agieren die Temponauten als Kosmonauten bei einer
Trainingseinheit. "Start position!", "Run in place!","Grab your
rockets" etc. Und bei diesem Training wird die Idee des Kommunismus
hochgehalten: "No first, no last. Running in place is an example to the
community!"
Re-mix und Re-animation werden von dem Künstlerkollektiv als
wichtige Elemente der Arbeit angegeben. So wiederholen sich die
einzelnen Geschichten refrainartig. Wie ein Running Gag ("Run in
place") ziehen sich einzelne Versatzstücke durch das Stück. Was zuerst
wie ein Feuerwerk an Ideen wirkt, verliert durch die Wiederholung an
Spannung. Ein prachtvoller Einstieg, ein solider Mittelteil und ein
absehbares, herbeigesehntes, ratlos zurücklassendes Ende. Aber
vielleicht ist genau das das Schicksal des Kommunismus.
Marianne Strauhs
20/09 - 14/10/2007
steirischer herbst