steirischer herbst 2007
Süddeutsche Zeitung - 28.09.2007
Klappe halten
Tim Etchells und die Baktruppen beim Steirischen Herbst

Der Steirische Herbst in Graz hat 40. Geburtstag. Sein Motto diesmal: "Nahe genug". Kunst,
das ist hier so ausgemacht, soll jährlich einmal die Chance erhalten, einen Platz in der politischen
Diskussion zu finden. Falls man den Grazer Zeitungen glauben will, sind auf jeden Fall die
Muslime nahe genug. Aber die Wirtschaftsweisen sagen: Der Osten könne nicht nahe genug
sein, falls Österreich die Radnabe Europas zu Beteiligungen in Bosnien und Investitionen in der
Türkei sein will.

Zur Eröffnung des von Veronica Kaup-Hasler kuratierten Fests treten keine Weisen und keine
Muslime vor, sondern die eigene Brut. Nahe genug an die Rampe des Theaters hat Tim Etchells,
Autor des britischen Performance-Ensembles Forced Entertainment, siebzehn Kindern zwischen
acht und vierzehn Jahren aus dem belgischen Gent das Auswendiglernen schmackhaft gemacht.
Wie zu Peter Handkes "Publikumsbeschimpfung" deklamieren sie in "That Night Follows Day"
stolze siebzig Minuten lang im Chor, dass die Eltern ihnen nie nah genug sind, ihnen dafür stets
zu nahe treten. Die Kinder schimpfen: "Ihr bringt uns bei, dass wir die Klappe halten sollen", und:
"dass im Theater die Menschen nicht echt und die Gefühle nur gespielt sind".

Dass die Eltern ihren Kindern Ängste einbläuen, aber die geliebten Monster aus den Spielen
und Fernsehsendungen gar nicht existieren, kommentiert eine Grazerin: "Ich bin Mutter, und
diese Kinder klagen mich an. Sie verstärken diesen gesellschaftlichen Druck, als Eltern immer
nur versagen zu können, das Kind nicht richtig erzogen zu haben, nie genug Zeit zu haben, und
nimmt man sich die Zeit, heißt es gleich, man habe das Kind überbehütet." Die Dame kocht, die
Kunst heizt ein.

Das Festivalpublikum zieht schimpfend durch die Altstadt auf einen Platz mit einem weißen
Zeltbau, das "The Theatre" heißt. Es will ein Kunstwerk sein, das mit vierzig verschiedenen
Genehmigungen ausgestattet, mit Foyer, Einlass, Rängen, Feuerlöscher und Toiletten
haargenau so aussieht wie ein Theater. Zwei Jahre lang haben der Tanzdramaturg Marten
Spangberg und der Architekt Thor Lindstrand an der Idee gearbeitet, ein Theater zu bauen, das
ihnen Grazer Sponsoren errichteten und das nun eine "benutzbare Skulptur" sein soll, die
haargenau so aussieht, als käme sie aus einem Zeltverleih. Das Beste, sagt ein Einheimischer,
ist, "dass es wieder verschwindet".

Nah ist nicht nah genug
Das kann natürlich nicht sein, dass einem das Theater zu nahe tritt, indem sich erst mal nur das
Publikum auf die Füße steigt. Aber dann fällt eine sonderbare Bemerkung, kurz bevor die
norwegischen Baktruppen eine lustige Persiflage auf die amerikanischen Choreographenlegende
Merce Cunningham hinlegen: "Warum sollen wir die Klappe halten, wenn im Theater die
Menschen nicht echt und die Gefühle nur gespielt sind?" Der Satz klingt rebellisch im saturierten
Graz und erzeugt doch Echos: Wie verändern wir die Art und Weise, das Theater verändern zu
wollen? Indem wir das Theater persiflieren, um sichtbar zu machen, was es überhaupt darstellt?

Muss das Theater immer nur Immobilie und Repertoireanstalt sein, indem es unsere
Sesshaftigkeit und Identität nachahmt? Tritt uns das Theater zu nah, ist uns aber nicht nah
genug? Ist das Theater unser Kind, das an Monster glaubt, aber unsere Ängste nicht versteht?
Nicht schlecht, was die Grazer da diskutierten, mitten in der Nacht, als ein kleines Feuerwerk
abbrennt, wie zur Mahnung, dass das Theater ganz schnell verpuffen könnte, wollte man es auch
nur ein bisschen verändern wollen. Da schüttelte es manchen. Aber das lag wohl mehr an den
rapide sinkenden Außentemperaturen in Graz.

ARND WESEMANN



20/09 - 14/10/2007
steirischer herbst
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